Jazz und Literatur mit Prof. Wesselak

07. Oktober 2008
Sondershausen, Schroedersaal

Jazz & Literatur
Professor Wesselak liest Dada
Dieter Großkopf trommelt dadazu

Prof. Dr.-Ing. Viktor Wesselak (txt)
Dieter Großkopf (git, dr),
Max Großkopf (dr)
David List (dr)

in Kooperation mit der Stadtbibliothek “Johann Karl Wezel”

Wahnsinn und Mord wetteiferten miteinander, als Dada 1916 in Zürich aus dem Urgrund emporstieg. Die Menschen, die nicht unmittelbar an der ungeheuerlichen Raserei des Weltkrieges beteiligt waren, taten so, als begriffen sie nicht, was um sie vorging. Wie verirrte Lämmer blickten sie aus glasigen Augen in die Welt. Dada wollte die Menschen aus ihrer jämmerlichen Ohnmacht aufschrecken. Dada verabscheute die Resignation. Wer von Dada nur seine possenhafte Phantastik beschreibt und nicht sein Wesen, nicht in seine überzeitliche Realität eindringt, wird von Dada ein wertloses Bruchstück geben. Dada war kein Rüpelspiel.“

Aus „Mit Witz, Licht und Grütze. Auf den Spuren des Dadaismus.“, „Dada siegt. Eine Bilanz des Dadaismus.“ von R. Huelsenbeck

Dadaismus in Sondershausen ?

Über eine Dadaistische Veranstaltung zu schreiben ist keine leichte Aufgabe, ehr eine Herausforderung, wenn nicht eine Zumutung. Da aber hier zu jeder Veranstaltung etwas aufgeschrieben ist, schon damit die Bilder nicht so unkommentiert herumliegen, kommen wir wohl nicht umhin, uns mit der Problematik etwas ausführlicher auseinanderzusetzen:

Professor Wesselak liest Dada

Eigentlich liest er „Regenerative Energietechnik“ an der Fachhochschule Nordhausen, manche sagen auch „Alternative Energien“ dazu. Der Jazz-Club Sondershausen wollte ihm eine Alternative dazu bieten und hat ihn eingeladen, die mentalen Energien eines frühherbstlichen Sondershäuser Publikums zu regenerieren. Ebenfalls keine leichte Aufgabe?

Lassen sie mich, wie es sich gehört, mit der Publikumsschelte beginnen. Gerademal mindestens immerhin cirka fast 50 Enthusiasten hatten sich bereit gefunden, sich auf einen dadaistischen Diskurs einzulassen. Ein einzelnes Publikumsmitglied ging, vorsichtig empört, bereits nach der Pause mit den Worten „ich gehe jetzt“. Nun, eigentlich sollte man damit rechnen, dass auch Dada drin ist, wo Dada draufsteht. Das gemeine Publikum hingegen harrte aus. Es ertrug den unabdinglichen Exkurs in die Entstehungsgeschichte des Dadaismus, ohne den man selbigen schon gleich gar nicht verstehen kann und wurde im Verlauf des Abends mit der versprochenen mentalen Energie belohnt. Letzteres kann leider nur spärlich visualisiert werden, da Betroffene mit Unterlassungsklagen drohten, sollten die durchaus gelungenen elektronischen Ablichtungen internetal veröffentlicht werden. Wer sieht sich schon gern selbst vor Lachen weinen?

Zunächst entführten virtuose Trommeln das Auditorium aus dem ausklingenden alltäglichen Dienstag in eine von Arbeit und Sorgen freie Sphäre rhythmischer Tam-Tams. Kongas donnerten durch das Dämmerlicht und Hände prasselten auf gespannte Tierhäute. Verantwortlich dafür waren die drei Sondershäuser Musiker Lunte, alias Dieter Großkopf (Spectrum, Claras Rockband, Zweiter Aufguss), sein Sohn Max Großkopf und David List (Beside The Cocobay), letztere zwei inzwischen Studenten und extra zu diesem dadaistischen Abend in die Heimat zurückgekehrt.

So geht die Musikstadt nebenbei bemerkt mit ihren musikalischen Talenten um. Die studieren irgendwo in der weiten Welt Informatik, Anthropologie oder Dadaismus, und wenn sie dereinst da draußen ihren Rum erlangt haben, hängt bestenfalls eine Gedenktafel neben der Eingangstür ihres Geburtshauses, posthum versteht sich.

Zum Kern der Sache. Wussten Sie, dass die Entstehung des Dadaismus eine Antwort auf eine nicht gestellte Frage war? Fragen Sie mich jetzt aber bitte nicht welche Frage das war und erwarten Sie an dieser Stelle auch keine Antwort, geschweigedenn eine Erklärung, da hätten Sie am 7. Oktober 2008 in den Schroedersaal nach Sondershausen kommen sollen, da wäre Ihnen geholfen worden, da hätte man Ihnen in zwei Stunden die Wurzeln und Strömungen des Dadaismus erklärt und da hätte man Ihnen anhand tiefsinniger, amüsanter bis scheinbar sinnloser Beispiele diese, die Kunst in Frage stellenden Kunstform, nahegebracht. Aber nein, Sie haben es ja vorgezogen zu Hause im Sessel zu sitzen (anwesende ausgenommen).

Immer wieder von den Trommlern unterbrochen, gab es den ganzen Abend Beispiele mit Sinn und Unsinn, die Einblicke in die kulturelle Grammatik der Blütezeit des Dadaismus möglich machten. Es gab Satire, Parodien, Kurzgeschichten und „Historische Berichte“ wie Kurt Schwitters‘ “ Ursachen und Beginn der großen glorreichen Revolution in Revon“ aus dem der berühmte Satz „Da steht ein Mann“ stammt. Und, es gab gehäuft Lautgedichte zu absorbieren, selbst an eine Anleitung zur Herstellung eines Lautgedichtes war gedacht. Das Publikum zeigte sich gefesselt, auch wenn es hartnäckig der Versuchung widerstand, in ein von den Musikern angestimmtes dadaistisches Lied einzustimmen. Entgegen den Gepflogenheiten auf anderen Veranstaltungen wurde allerdings niemand zum Mitsingen der „Dada-Hymne“ gezwungen.

Dann, beim Vortrag eines Lautgedichtes, passierte es. Das Publikum barst. Wieso eigentlich bei einem Lautgedicht? Es barst. Erst barsten einzelne Menschen, dann Menschencluster, dann der ganze Saalinhalt. Sie barsten an Stellen, an denen es niemand vermutet hätte, an denen es eigentlich nichts zu Lachen gab. Es passierte unerklärlicherweise nicht, als der vermeintlich angesägte Schirm von Frau Feuerheuer brach (eine wissenschaftliche Analyse und Deutung des Textes finden Sie unter http://www.woerter.de/hb/texte/ball-schwitters.html), auch nicht als ein herumstehender Mann in Revon die Revolution auslöste, nein, es passierte mitten in einem Lautgedicht, zusammengesetzt aus in Silben zerschnippelten Worten, entnommen aus einer beliebigen Tageszeitung. Zuerst barst eine junge Frau. Ob der Ernsthaftigkeit des Schroedersaals musste sie wohl die komischen Momente zunächst in sich angesammelt haben, bis es gesetzmäßig zum Umschlagen der akkumulierten Quantitäten in eine neue Qualität kam. Sie barst prustend vor Lachen und triggerte damit duzende weiterer Lachzentren in anderen Gehirnen des Auditoriums. Die Aufgabe war gelöst. Die Regeneration mentaler Energien war gelungen.

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